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Stone Blind - Der Blick der Medusa

Natalie Haynes

Klappentext:

Medusa wächst bei ihren Schwestern auf und merkt schnell, dass sie anders ist – eine Sterbliche in einer Familie von Göttern. Von ihrer Schönheit angezogen, bedrängt der Meeresgott Poseidon sie im Tempel der Athene. Die Göttin wähnt ihren Tempel entweiht und lässt ihre Wut an der Unschuldigen aus: Medusa wird in ein Monster mit Schlangenhaaren verwandelt, das kein Lebewesen mehr ansehen kann, ohne es zu Stein erstarren zu lassen. Aus Rücksicht verdammt Medusa sich zu einem Leben in der Einsamkeit. Bis der junge Perseus sich aufmacht, das Haupt eines Ungeheuers zu erlangen...

 

Poetisch und klug erzählt Natalie Haynes die Geschichte einer Frau, die von anderen zum Monster gemacht wird – und sich doch selbst behauptet.

 

»Ich wollte schon lange einmal über Medusa schreiben. Ich hatte das Gefühl, ich schulde ihr einen Roman. Medusas Geschichte ist die eines Monsters, das kein Monster ist. Wir denken immer, sie sei etwas Böses – aber ich habe den Eindruck, dass wir dabei viele Elemente ihrer Geschichte völlig übersehen. Medusa wurde nicht nur gefürchtet, sondern auch geliebt. Etwa von ihren zwei Schwestern. Sollten wir Medusa fürchten? Ganz bestimmt nicht. Ich möchte Medusa ihre Stimme zurückgeben.« Natalie Haynes 

 

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Meine Meinung:

Wenn Götter aus dem Nähkästchen plaudern

Das Ungewöhnliche an dieser Neuerzählung der antiken Medusa-Sage ist weniger ihre Handlung als die Art und Weise, wie die Autorin die altbekannten Charaktere interpretiert, und die wechselnden Perspektiven, aus denen sie das Geschehen beleuchtet.

 

Bei Haynes ist der junge Halbgott Perseus kein strahlender Held, sondern der verwöhnte Fratz einer alleinerziehenden Mutter, der, mit bescheidenem Mut und geringer Umsicht ausgestattet, wehleidig um göttliche Hilfe bettelt. Auch die Göttinnen und Götter des Olymp sind noch viel weiter von Perfektion entfernt als im antiken Original. Der mächtige Meeresgott Poseidon beispielsweise wird


uns als eitler Jammerlappen präsentiert, der sich ständig benachteiligt fühlt, während Athene, die Göttin der Weisheit, von Gefühlskälte und Kriegslust geprägt ist. Auch Apollon und Artemis geben als oberflächliches, selbstverliebtes Zwillingspaar nicht unbedingt ein glanzvolles Bild ab. Demgegenüber kommt der Göttervater Zeus noch vergleichsweise gut weg - womöglich weil ihm schon im Original ausreichend Charakterschwächen auf den Leib geschrieben sind. Ähnliches gilt für den körperbehinderten Hephaistos, den Gott der Schmiede, der in seinem (vergeblichen) Streben nach Liebe und Anerkennung zu allem bereit ist.

 

Hinweise auf die wenig vorteilhaften Eigenschaften, die die Autorin ihren Charakteren zuschreibt, finden sich in der antiken Mythologie zuhauf. Ein radikal neues Bild zeichnet sie jedoch von der Hauptperson ihrer Geschichte: Medusa, die Gorgone mit dem Schlangenhaar, bei deren Anblick jedes Lebewesen zu Stein erstarrt. In der klassischen Sage ist sie ein Monster, dessen (sinnloser) Tod durch die heldenhafte Hand des Perseus keinen zweiten Gedanken - allenfalls ein Gefühl der Erleichterung - wert ist. Haynes hingegen zeichnet ihre Protagonistin als lebendiges Wesen mit einer Vergangenheit und der Hoffnung auf eine Zukunft - eingebettet in eine liebevolle Familie und voller Mut und Charakterstärke. Irritiert erleben wir eine Umkehrung der gewohnten Sichtweisen: Das vermeintliche Monster offenbart sich als Opfer, der jugendliche Held und seine göttlichen Unterstützer als feige, egoistische Täter.

 

Ein feministischer Roman? Wohl ja - aber keiner, der die Verhältnisse blindlings in ihr Gegenteil verkehrt, alle Männer schlecht macht und ihnen die Schuld am Unglück der Frauen gibt. Sondern einer, der die tradierten Bilder klug hinterfragt, differenzierte Persönlichkeiten entwirft und diese in einen sozialen Kontext stellt.

Dadurch, dass Haynes die Handlung abwechselnd aus der Sicht der verschiedenen Charaktere schildert, können wir uns in jede einzelne Figur hineinversetzen und ihre Gefühle nachempfinden. So schrammt die Autorin (gerade noch) an einer einseitigen Verunglimpfung unserer einstigen Idole vorbei und entwirft - dies ganz in der Tradition des klassischen griechischen Mythos - ein zutiefst menschliches Bild der olympischen Gottheiten.

 

Fazit: Eine unbedingte Leseempfehlung für Fans der griechischen Mythologie - sofern sie es verkraften können, dass ihre Gottheiten entthront werden. Die ideale Lektüre für einen Griechenland-Urlaub!

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